Jess de Jesus de Pinho Pinhal, Philosophin und Leiterin der Ethics Lab an der TU Berlin, und Micaela Mantegna, Gaming-Anwältin und Affiliate am Berkman Kline Center for Internet and Society an der Harvard Universität, über ethische Grundgedanken im Web3.
Auf unserem Weg zum Web3 wollen wir natürlich nicht dieselben Fehler wie im Web2 begehen. Doch welche Herausforderungen bestehen? Welche Probleme wohnen der aktuellen Infrastruktur inne, die wir unbedingt adressieren müssen? Welche Regeln braucht es, damit der Wandel hin zu einer dezentralisierten Welt langfristig und ethisch vertretbar ist?
Um Antworten auf diese und mehr Fragen zu erhalten, haben das House of Beautiful Business und Hotwire Deutschland sich im Zuge der „Web3 Learning Journey“ mit den Expertinnen Jess de Jesus de Pinho Pinhal und Micaela Mantegna unterhalten.
Monika Jiang: Ihr arbeitet beide in Forschungsfeldern, in denen sich Technologiepolitik mit gesellschaftlichen und kulturellen Fragen überschneidet. Welchen einschlägigen Missverständnissen begegnet ihr da?
Jess de Jesus de Pinho Pinhal: Wir sprechen immer von „dem“ Internet, was suggeriert, dass das Internet überall gleich ist. Allerdings sind die Erfahrungen mit Internet und Konnektivität stark abhängig vom Standort und unterscheiden sich in Netzgeschwindigkeit, Zuverlässigkeit und sogar Interfaces.
Micaela Mantegna: Für mich ist das größte Missverständnis der Umgang mit dem kommerziellen Metaverse.Viele Menschen schreiben das Metaverse dem Konzern Meta zu. Open oder Public Metaverses sowie die kommerzielle Seite der Technologie in Verbindung mit finanzieller Knappheit fallen dabei jedoch häufig vom Tisch. In der realen Welt ist alles mit Geld und Transaktionen verbunden – zum Beispiel, um Dinge herzustellen, sie zu liefern und so weiter. Im virtuellen Raum sieht das anders aus: Sobald hier etwas produziert wird, lässt es sich unendlich reproduzieren, wodurch potenziell jeder Zugang dazu hat.
Monika Jiang: Jess, deiner Meinung nach eifern wir viel zu sehr ethischen Aspekten nach. Für dich hängt das Internet, sein Aufbau und wie wir uns diesbezüglich weiterentwickeln wollen vielmehr mit Politik und politischer Philosophie zusammen. Könntest du das in einen Web3-Kontext bringen?
Jess de Jesus de Pinho Pinhal: Bei ethischen Fragen geht es um „gut“ oder „schlecht“. Das ist bei neuen Technologien nicht der Fall. Einer der Grundwerte des Web3 ist die Anonymität. Dies bringt jedoch einige Nachteile mit sich: Menschen, die sozial besonders gefährdet sind, können dadurch nicht geschützt werden. Zudem soll Liberalismus zwar für Meinungsfreiheit sorgen, in Verbindung mit der Gesellschaft ist er dennoch mit einem gewissen Grad an Materialität verbunden. Nehmen wir dezentralisierte autonome Organisationen (DAO) als Beispiel. Klar, keine Hierarchien und Führungspersonen zu haben, klingt verlockend. Aber wer schützt Minderheiten in diesem Szenario? Mit dem Web3 und dem Konzept der DAO sollen einzelne Entscheidungsträger durch Personen ersetzt werden, die über genügend Tokens verfügen. Menschen, die nicht über das notwendige Kapital verfügen oder technisch nicht versiert genug sind, werden im Zuge dessen ausgeschlossen. Das sind politische Herausforderungen, die einer politischen Lösungen bedürfen.
Micaela Mantegna: Im Laufe der Geschichte des Internets stellten sich bereits einige Fragen und Problematiken, die im Zuge des Web3 wieder aufleben – weil wir sie damals einfach nicht gelöst haben. Ich denke, wenn wir das Web3 und das Metaverse als etwas komplett Neues behandeln und über Anonymität im liberalen Sinne diskutieren, fangen wir wieder ganz bei null an und haben folglich mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Die Schutzmaßnahmen, die wir uns bis dato aufbauen konnten, werden dann ebenfalls verlorengehen. Und das Problem eines nicht regulierten Internets ist: Es gibt keine Zuständigkeiten und keine Kontrolle. Diesbezüglich stellten Datenschutzregulierungen bisher die beste Lösung dar. Denn wenn wir Datennutzung usw. regulieren, regulieren wir gleichzeitig auch den Zugang zur digitalen Wirtschaft. Dadurch entsteht jedoch eine Art Fragmentierung: Sobald du Zugang zu einem bestimmten Bereich im Web3 möchtest, brauchst du entweder diesen oder jenen Token.
Monika Jiang: Wen sollte man in diese Diskussion stärker einbinden, um eine ethische und nachhaltige Zukunft des Internets zu schaffen?
Micaela Mantegna: Jeder sollte in irgendeiner Form Repräsentation finden – allein schon, um mit den eigenen Werten und kulturellen Kontexten einen Beitrag zu leisten. Das wird sich aufgrund der systematischen Ungleichheit aber nur schwer umsetzen lassen, denn selbst im Web3 wird nicht jeder gleich sein. Der Wandel wird nicht automatisch diese fest verwurzelte Mentalität ausradieren.
Jess de Jesus de Pinho Pinhal: Dem stimme ich zu. Doch das Problem ist – wie Micaela bereits verdeutlicht hat: Wir haben die Probleme des Web2 – oder sogar des Web1 und des Web0 – noch nicht gelöst. Das bringt mich zum Anfang zurück: Wir werden nicht in der Lage sein, diese Ungleichheiten zu tilgen, wenn sie bereits bei der Verfügbarkeit von und dem Zugang zum Internet beginnen. Dazu kommen Big-Tech-Konzerne, die die Kontrolle über Daten halten, die wachsende digitale Kluft und das Problem mit dem Kapital. Ich würde gerne sagen: Wir brauchen jeden im Web3. Die Realität sagt mir jedoch, dass wir noch mehr Menschen ausschließen werden, wenn wir keine Brücke über die digitale Kluft schlagen können.
Das Gespräch, das auf dem Discord Server der Veranstaltung stattfand, wurde editiert, gekürzt und zusammengefasst. Die vollständige Mitschrift in englischer Sprache findet sich hier.
Zum Weiterlesen:
- Reimagining collaboration with Web3 – Kerem Alper, Mitbegründer des Creative-Services-Unternehmens ATÖLYE und der Decentralized-Collaboration-Plattform Neol, über Potenziale und Hürden bei der dezentralen Zusammenarbeit.
- The post-platform economy – Jürgen Geuter alias tante, Research Director bei ART + COM, rekapituliert die wesentlichen Bestandteile und das Potenzial des Web3, um herauszufinden, wie es um die Zukunft des Post-Plattform-Internets steht.