Eric Schmidt, damals CEO von Google, stellte auf dem Mobile World Congress 2010 den neuen Ansatz seines Unternehmens beim Produktdesign vor: Mobile First. Anstatt Anwendungen wie gehabt für Desktop-PCs zu entwickeln, war Google dazu übergegangen, Mobilgeräte beim Design zu priorisieren. Was immer Google baute, musste zuvorderst auf Smartphones und Tablets gut funktionieren und aussehen. Im Verlauf der Jahre wurde dieser Mobile-First-Ansatz zum Goldstandard für gutes Webdesign – heute folgen die meisten Webseiten und Web-Apps der Philosophie.
Mit der gerade erfolgten Veröffentlichung der Apple Vision Pro stellt sich die Frage, ob wir erneut an einem solchen Scheidepunkt stehen: Aus Mobile First könnte „Spatial First“ werden, angelehnt an den von Apple etablierten Begriff „Spatial Computing“. Das heißt: Früher oder später könnte es üblich werden, digitale Inhalte nicht mehr auf Desktop- oder Mobilgeräte, sondern auf Spatial-Computing-Devices auszurichten. Zwar ist die Brille von Apple wie auch die vergleichbaren Quest-Produkte von Meta noch weit davon entfernt, sich den Massenmarkt zu erschließen. Doch die historische Parallele zeigt, weshalb das Gedankenexperiment lohnt: Zu dem Zeitpunkt, als Eric Schmidt die Welt erstmals in Googles „Mobile-First-Strategie“ einweihte, lag der Anteil von Mobilgeräten am globalen Web-Traffic ebenfalls erst bei gerade einmal 4 Prozent. Wie könnte also eine Zukunft aussehen, in der wir digitale Inhalte primär auf Spatial-Computing-Geräte optimieren?
Neue Prioritäten?
Heute machen Mobilgeräte knapp 55 Prozent des gesamten Web-Traffics aus – die Strategie von Google ist also aufgegangen. Dass mittlerweile fast alle Webseiten nach dem Mobile-First-Prinzip gestaltet werden, ist somit nicht nur dadurch begründet, dass Google irgendwann anfing, mobiloptimierte Seiten auch in seinen Suchergebnissen höher zu ranken, sondern durch einen tatsächlichen Marktbedarf getrieben.
Wie sieht der Status Quo im Spatial Computing aus? Apple ist es gelungen, in den ersten zehn Tagen nach dem Release der Vision Pro die gesamten 200.000 Geräte zu verkaufen, die es auf Lager hatte. Sofern sich dieser Trend fortsetzt, sollten wir dringend anfangen, darüber nachzudenken, welche Konsequenzen das für die Gestaltung von Apps und Webseiten haben könnte. Denn Spatial Computing bietet einerseits spannende neue Möglichkeiten, stellt andererseits aber auch neue Anforderungen an Designer. Die Art und Weise, wie wir digitale Inhalte konsumieren und mit ihnen interagieren, könnte sich deshalb grundlegend verändern. Im Zentrum stehen dabei weniger die Eingabegeräte, denn schließlich lässt sich die Vision Pro auch mit Maus und Tastatur kombinieren. Wichtiger ist der Bildschirm.
Wie werden Webseiten in Zukunft aussehen?
Eine der zentralen Unterschiede zwischen Mobilgeräten und Desktop-PCs war die Ausrichtung des Displays. Der Übergang zu Mobile First bedeutete daher die Umstellung von horizontal auf vertikal ausgerichtete Bildschirme. Mit Spatial First kehren wir wieder zu den Wurzeln zurück: Inhalte für Spatial-Computing-Geräte können so hoch und breit sein, wie das natürliche menschliche Sichtfeld es hergibt – und selbiges ist aufgrund der Anordnung der Augen nun mal eher breit als hoch.
Doch das gesamte Sichtfeld großzügig mit Inhalt zu füllen, ist selbstverständlich auch keine gute Idee. Denn schließlich machen es die Kameras auf der Vorderseite der Brillen möglich, die Raumumgebung weiter wahrzunehmen. Der ideale Content nutzt deshalb einerseits die Möglichkeiten des Spatial-Computing-Displays bestmöglich aus, achtet andererseits aber auch darauf, nur einen möglichst kleinen Teil des Sichtfelds zu blockieren, damit der Nutzer weiterhin seine Umgebung sehen kann. Dies wirft etwa die Frage auf, ob man in Zukunft minimalistische Apps und Webseiten mit transparentem Hintergrund bauen könnte, auf denen nur die wichtigsten Inhalts- und Navigationselemente übrigbleiben, damit nicht irgendein schmückendes Beiwerk das Sichtfeld unnötig blockiert. Digitale Experiences könnten so immersiver werden, weil sie sich nahtlos in die physische Umgebung des Nutzers einfügen.
Ein anderes Thema ist das Scrolling: Wir scrollen auf klassischen Websites heute vertikal, also von oben nach unten. Aber für Spatial-Computing-Experiences scheint diese Scroll-Richtung längst nicht gesetzt. Zum einen könnte horizontales Scrolling populärer werden, bei dem sich Inhalte seitlich in das Sichtfeld des Nutzers schieben. Zum anderen: Wäre nicht auch Scrolling entlang der Z-Achse vorstellbar, also in den dreidimensionalen Raum hinein? An diesem simplen Beispiel zeigt sich, was möglich wird, wenn die Beschränkungen herkömmlicher Bildschirmtechnik aufgehoben sind.
Neue Anzeigenformate
Auch die Werbung wird sich verändern. Anstatt an statischen Punkten einer Website können Anzeigen in Zukunft überall im Sichtfeld des Nutzers auftauchen. Zum Beispiel lassen sie sich nahtlos in die physische Umgebung integrieren. So können Publisher nicht nur die heute allgegenwärtige Banner Blindness effektiv bekämpfen, vor allem aber werden Anzeigen so wieder zu interessanten und packenden Erlebnissen. Die statischen und wenig interaktiven Anzeigeformate der Web-2.0-Ära, die im Regelfall weder das Interesse des Nutzers weckten noch eine überzeugende Brand Experience boten, gehören dann endlich der Vergangenheit an.
Im Spatial-First-Zeitalter werden 3D- und Augmented-Reality-Anzeigen denkbar, die Nutzer auf eine völlig neue Art und Weise ansprechen. Solche Formate bergen das Potenzial, die oft empfundene Distanz zwischen Nutzer und traditionellen Anzeigen zu überwinden, und erlauben stattdessen eine ansprechendere und weniger flüchtige Interaktion mit Markeninhalten.
Schafft Spatial Computing den Durchbruch?
Alle gerade geschilderten Beispiele werden Spekulation bleiben, wenn es nicht gelingt, Spatial-Computing-Geräte am Massenmarkt zu etablieren. Als Google seine Mobile-First-Strategie ausrief, lag der Anteil von Mobilgeräten am globalen Web-Traffic – wie eingangs gesagt – bei gerade mal vier Prozent. Doch selbst von dieser kleinen Zahl sind die Apple Vision Pro und verwandte Geräte noch meilenweit entfernt. Dennoch sollten wir nicht aus dem Auge verlieren, wie Early Adopter die Geräte nutzen, welche Use Cases sich herauskristallisieren und wie sich die Verkaufszahlen in den kommenden Monaten entwickeln. Die hohen Anschaffungskosten und Kinderkrankheiten der Geräte stellen aktuell noch Hindernisse dar, doch diese lassen sich ausräumen. Es sollte in diesem Zusammenhang auch nicht vergessen werden, dass Apple, Meta und weitere Tech-Riesen unzählige Milliarden für Forschung und Entwicklung ausgeben, was die Erfolgschancen der Technologie sicherlich erhöht. Der Weg in das Spatial-First-Zeitalter mag noch weit sein, doch auch Mobile First erschien vielen Webdesignern zum Zeitpunkt seiner Vorstellung noch als absurdes Konzept. Es könnte sich daher lohnen, frühzeitig über die Auswirkungen von Spatial Computing auf die Gestaltung von digitalen Inhalten nachzudenken.