Urgötting der griechischen Mythologie, die aus dem Chaos entstand, die personifizierte Erde – mit Gaia haben sich die Initiatoren aus dem Bundeswirtschaftsministerium eine illustre Namensgeberin für ihr Cloud-Projekt ausgesucht. Doch ist das wirklich zu so Hohem berufen? Schließlich soll damit irgendwann eine europäische Alternative zu Playern wie Google, Microsoft und Amazon entstehen. Das Medienecho seit der Bekanntgabe fiel eher verhalten aus. „Ebenso ambitioniert wie unkonkret“ nannte es etwa die Süddeutsche Ende Oktober nach der Vorstellung auf dem Digitalgipfel in Dortmund. Nach der Bekanntgabe des offiziellen Launches Anfang Juni bemängelte das Handelsblatt das Budget von lediglich 27 Millionen, die die Bundesregierung bisher dafür reserviert hat, und resümiert „Anspruch und Wirklichkeit klaffen in Europa weit auseinander.“ Euphorie sieht anders aus.
Dieser Anspruch, dem der Vorwurf der Realitätsferne gilt, findet sich in den Stimmen aus der Bundespolitik. Bildungsministerin Karliczek bezeichnete GAIA-X gar als „Peter Altmaiers und mein Baby“. Aus dem Wirtschaftsministerium kommen Begriffe wie „Moonshot“ oder „Startrampe für den KI-Airbus“. Zwischen Euphorie in den zuständigen Teilen der Politik und Skepsis in den Medien steht noch die Frage, welche Chancen GAIA-X denn nun der Wirtschaft bietet.
Zu viel Pathos und zu wenig Pragmatismus
Wer heute in die Cloud möchte, der kann nicht warten, bis Gaia der chaotischen Ursuppe entstiegen ist, wenn sich bei den etablierten Anbietern die benötigte Speicherkapazität, neben vielen weiteren Dienstleistungen, mit wenigen Klicks beziehen lässt. Man sollte sich also nicht der Illusion hingeben, dass GAIA-X in absehbarer Zeit an der Vormachstellung der etablierten Cloud-Giganten rütteln wird. Realistisch gesehen besetzt das Projekt eine Nische – allerdings eine durchaus interessante.
Große Teile des deutschen Mittelstands könnte man als „moderat technikoptimistisch“ bezeichnen. Die Unternehmen springen nicht begeistert auf jeden neuen Trend auf, sind aber auch keineswegs innovationsfeindlich. Auf die Frage nach der Cloud werden daher sicher die wenigsten Betriebe mit „Ja, unbedingt!“ oder „Nein, auf keinen Fall!“ antworten. Zu erwarten wäre eher ein abwägendes, generelles Ja unter bestimmten Bedingungen. Damit ergibt sich ein spannendes Einsatzfeld für die europäische Cloud-Lösung, die Bedenken hinsichtlich Datentransfer oder Vendor Lock-in adressieren kann. So soll bei GAIA-X etwa die Verwendung von Open-Source-Komponenten für Transparenz sorgen. Mit Datenspeicherung auf Servern innerhalb Europas will man die Einhaltung der DSGVO und die „Datensouveränität“ garantieren. Gerade in Deutschland, wo Datenschutz eine herausragende Rolle einnimmt, könnte man mit diesen Argumenten vermutlich auch Skeptiker von den Vorteilen der Cloud überzeugen.
Allerdings muss man sich auch die ganz praktische Frage stellen, wer die Hardware für eine europäische Cloud liefern soll. Wie europäisch ist die Lösung noch, wenn man nun hier doch wieder auf asiatische oder amerikanische Hersteller zurückgreifen muss?
Außerdem gibt es bereits heute moderne Methoden der Datenspeicherung, die dennoch Sicherheit und Datenschutz garantieren. Es muss nicht immer eine Public Cloud sein, Unternehmen können sich auch ganz bewusst für eine private Lösung entscheiden. Oder sie können die Verschlüsselung ihrer Daten selbst kontrollieren, wenn sie Bring-your-own-Key nutzen, wie das beispielsweise von AWS angeboten wird.
Wettbewerb ja, Protektionismus nein
Das Projekt GAIA-X soll natürlich kein Selbstzweck sein: Eine große Hoffnung, die mit der Hinwendung zur Cloud verbunden wird, ist die auf neue innovative Geschäfts- und Arbeitsmodelle. Gerade in den letzten Monate zeigte sich, dass Unternehmen, die bereits in der Cloud arbeiteten, sich viel schneller auf die neue Situation mit Home Office einstellen konnten. Unter der Prämisse, dass gesunder Wettbewerb Innovationen zuträglich ist, sind neue Angebote auf den Cloud-Markt natürlich ein gutes Zeichen. Ein Oligopol weniger Anbieter könnte sich dagegen auf Erreichtem ausruhen und einen hochprofitablen Markt unter sich aufteilen, ohne ihn wirklich weiterzuentwickeln. Frische Impulse sind also alleine schon vor diesem Hintergrund zu begrüßen und wenn diese aus Europa kommen ist das – aus unserer Sicht – natürlich umso besser.
Auf der anderen Seite gilt es aber auch darauf zu achten, dass keine Forderungen nach irgendeiner Art von „Datenprotektionismus“ aufkommen. Von der Frage der technischen Machbarkeit einmal ganz abgesehen, wäre es sicher nicht im Sinne der Innovationsförderung, heimische Unternehmen zur Nutzung von einer bestimmten Cloud zu zwingen. Das liegt ganz sicher nicht im Interesse der Initiatoren, dass die Forderung irgendwann doch einmal aufkommen könnte, lässt sich allerdings nicht ausschließen.
Wichtige Impulse für ein digitales Europa
Spätestens seit dem Beginn der industriellen Revolution in Großbritannien war Europa mindestens 150 bis 200 Jahre ein Vorreiter und Impulsgeber für technische Innovationen. Doch ins digitale Zeitalter konnte unser Kontinent diese Stellung nicht retten. In den letzten Dekaden haben uns zunächst die USA und später Asien den Rang abgelaufen. Wenn sich daran in Zukunft etwas ändern soll muss ein Umdenken stattfinden und wir müssen bereit sein, bequeme Pfade, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten ausgetreten wurden, zu verlassen und Neues zu wagen. Selbst wenn Projekte wie GAIA-X letztlich nur ein Weckruf dafür sind, sind sie schon ein Erfolg.
Ein solcher Weckruf ist in vielen Bereichen nötig, denn in Zukunft wird die Unterscheidung zwischen digitalen und nicht digitalen Unternehmen hinfällig sein. Auf die ein oder andere Art ist in Zukunft jedes Unternehmen digital und sei es der Imbiss, der nun Mobile Payment und Online-Bestellung anbietet. Das ist ein Mindset, das man verstehen, auf das eigene Unternehmen anpassen und letztlich auch nach außen kommunizieren muss.